Pilgern auf dem Jakobsweg – DEIN WEG oder Jakobs Weg?   

Jedes Mal, wenn ich erwähne, dass ich mal den Jakobsweg gelaufen bin, ist die erste Frage, die mich erreicht, folgende: Bist du den ganzen Weg gelaufen? Diese Frage zielt stets auf eine Antwort ab: und zwar auf das allseits bekannte Stück des Jakobsweges „Camino de Santiago“ und die rund 800 km lange Etappe zwischen den französischen Pyrenäen und Santiago de Compostela im spanischen Galizien.

Diese immer wiederkehrende Frage hat mich neuerdings etwas nachdenklich gestimmt. Nachdenklich insofern, als dass ich mich fragte:

Warum ist es genau dieser eine Weg, der die Massen so sehr bewegt? 

Diese Frage ließ Bilder in mir aufkommen, die mich an meine eigene Unsicherheit erinnerten, die mich damals während meiner Reisevorbereitungen und in den letzten Nächten kurz vorm Start einholten. Es war die Angst davor, einen Weg einzuschlagen, den ich noch nicht kannte. Denn weder war mir bis zu jenem Tag das Rucksackreisen vertraut, noch das Übernachten in Pilgerherbergen samt Mehrbett-Schlafsälen.

Wenn ich heute – 8 Jahre später – auf diesen Weg zurückschaue, so sehe ich, welch bedeutenden Wendepunkt er meinem Leben beschert hat. Und wie lange es gebraucht hat – und immer noch braucht –, um ein Gedankengut und Bewusstsein dahingehend zu entwickeln, das sich nicht mehr an dem orientiert, was alle anderen tun, sondern an dem, das ich allein für richtig halte.

So hat mich der Jakobsweg rückblickend betrachtet eines gelehrt:

Dass wir in der heutigen Zeit ganz genau hinschauen sollten, welchem oder gar wessen Weg wir folgen? Ist es wirklich unser eigener? Oder eifern wir irgendwelchen Dingen und/oder Menschen nach, von denen wir uns irgendetwas versprechen, ohne zu wissen, ob dieses Etwas unseren wahren Herzenswünschen entspricht?

Erfahrungsgemäß vernehmen die meisten Menschen erst dann den Ruf des Jakobsweges oder irgendeines anderen Selbstfindungsweges, wenn sie das leise Flüstern ihres Herzens viel zu lange überhört haben. Dann, wenn ihr Herz buchstäblich auf der Strecke bleibt und sich eine zunehmende Sinn-, Orientierungs- und Liebeslosigkeit in ihren Leben breit macht.

In solchen Situationen kann ein Weg, wie der Jakobsweg, Wunder wirken.

Er schenkt jedem, der ihn geht, einen gewissen Halt. Mit Hilfe der Pfeile, die den Jakobsweg säumen und der alltäglichen Wanderroutine, kehrt eine wohltuende Stabilität und Ruhe ein. Vor allem im Kopf, da die vielen Gedanken, die ansonsten um Alltagssorgen und Zukunftspläne kreisen, einfach mal leiser werden. Denn auf dem Jakobsweg ist für alles gesorgt, was das Pilgerherz benötigt: einen Weg, eine Richtung, ein Ziel, sozialen Austausch, Essen, Trinken sowie ein Bett zum schlafen.

Und so wandeln die Pilger auf den Spuren des Heiligen Jakob – dem Schutzpatron der Pilger –, in der Hoffnung, dass sie der Weg verwandelt und ihnen das ein oder andere Zeichen liefert, welches ihrem Leben wieder eine Richtung und Sinnhaftigkeit schenkt.

Das eine oder andere Zeichen mag mit etwas Glück vielleicht auch kommen.

Für viele jedoch – wenn nicht sogar für die meisten Pilger – beginnt der eigentliche Jakobsweg erst dann, wenn sie wieder zu Hause sind. Dann, wenn sie plötzlich feststellen, dass es keine Jakobsmuscheln und keine Pfeile mehr gibt, die ihnen die Richtung weisen. Und sie das Leben genau dort wieder abholt, wo sie einst vor dem Jakobsweg standen. Dort, wo es heißt – back to reality -, und wo es darum geht, den Mut zu finden, ganz eigene, individuelle und neue Wege zu gehen, auch wenn das Mogelpaket „Sicherheit“ auf diesem neuen Kurs eher Mangelware sein wird.

Dann tritt das ein, wovon nachfolgender Wegweiser erzählt, den ich kurz vorm Jakobsweg zusammen mit dem Pilgerpass vom deutschen Pilgerverein erhielt.

Ein Wegweiser, der nicht (nur) für den Jakobsweg gilt, sondern vor allem für das wahre Leben, das sich daran anschließt:

Ein Fluss wollte durch die Wüste zum Meer. Aber als er den unermesslichen Sand sah, wurde ihm Angst und er klagte: „Die Wüste wird mich austrocknen und der heiße Atem der Sonne wird mich vernichten oder ich werde zum stinkenden Sumpf.“ Da hörte er eine Stimme, die sagte: „Vertraue dich der Wüste an.“ Aber der Fluss befürchtete: „Bin ich dann noch ich selber? Verliere ich nicht meine Identität?“ Die Stimme aber antwortete: „Auf keinen Fall kannst du bleiben, was du bist.“

So vertraute sich der Fluss der Wüste an. Wolken sogen ihn auf und trugen ihn über die heißen Sandflächen. Als Regen wurde er am anderen Ende der Wüste wieder abgesetzt. Aus dem Regen entstand zuerst ein Bach, dann ein Fluss, schöner und frischer als zuvor. Und voller Freude rief der Fluss: „Jetzt bin ich wirklich ich.“  (Peter Müller)

In diesem Sinne, wünsche ich allen, die sich auf ihren ureigenen Herzensweg begeben:
BON CAMINO! 

Wenn dich dieses Thema anspricht, und du dich fragst, welches wohl die Mechanismen sein könnten, die dich davon abhalten, deinem ureigenen Herzensweg zu folgen, möchte ich dir mein neues Buch ans Herz legen:

„Montblanc – Wenn das Herz auf seinen Spiegel trifft“ … hier geht`s zur Leseprobe

Viel Freude beim Lesen wünscht dir
Deine Ute